Von Anna-Katharina Plach, Gaweinstal 

In der Mitte Asiens, eingebettet zwischen Russland und China, sucht die Mongolei ihren Platz als aufstrebendes Land. Die Bevölkerung ist stolz darauf, modern zu sein. Gleichzeitig feiert sie ihre Traditionen und Vergangenheit, die durch den Sozialismus, den Einfluss des Sowjetkommunismus sowie durch die chinesische Okkupation verloren gegangen sind. 

Das Bild der Hauptstadt Ulaanbaatar ist geprägt von Gegensätzen. Ein Beispiel dafür findet man auf dem Berg Dsaisan, im Süden der Stadt. Während dort ein Denkmal für die Sowjets steht, betet ein buddhistischer Mönch unmittelbar daneben bei einem Owoo (Opferberg) und Gläubige, die zuvor noch das Sowjetdenkmal bewundert haben, umkreisen den kultischen Steinhaufen dreimal im Sonnenlauf, weil es Glück bringt. Am Fuße des Dsaisan befindet sich ein sowjetischer Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg. Daneben hat man einen Park mit einem gewaltigen Buddha aus Gold und anderen buddhistischen Symbolen angelegt.

Hier werden die ideologischen Gegensätze in der mongolischen Bevölkerung sichtbar, denn der Kommunismus lehnt Religionen ab. Dieser Widerspruch ist aber auch auf der sozialen Ebene erkennbar. 

In Bezug darauf stellt sich die Frage, was der plötzliche Umbruch des politischen Systems 1990 mit der Gesellschaft gemacht hat und was die sozialen Folgen waren. Das sozialistische System hat andere Werte als das demokratische, weshalb hier eine soziale Einheit beschrieben wird, in der ein Mensch zuerst mit Normen und Werten in Berührung kommt und wo sie (unbewusst) internalisiert und erlernt werden. Das ist in der Regel die Familie

Die Familie ist in der Mongolei ein weitläufiger Begriff. Im indigenen turko-mongolischen Zusammenhang ist sie ein Synonym für Haushalt. Genau das stellt den Schlüsselaspekt in der familiären Lebensweise zwischen ruralen und urbanen Gebieten in der Mongolei dar. Die Nomaden leben traditionell und in Großfamilien, in Klans. Hier ist die Familie eine existenzielle Voraussetzung. Die Sesshaften in der Stadt leben vorwiegend in Kernfamilien, westlich und modern. Um wirtschaftlich überleben zu können, brauchen sie die (Groß-) Familie nicht. Sie dient als soziales Umfeld.

Als Satellitenstaat war die Mongolei rund 70 Jahre von der Sowjetunion wirtschaftlich abhängig. Seit 1924 versuchte die mongolische Regierung, den Sowjetkommunismus zu adaptieren. Als günstiger Lieferant von Rohstoffen, Tierprodukten und Arbeitskräften war die Mongolei für die Sowjets sehr wichtig. Außerdem war sie ein Pufferstaat zu China. Daher wurde auch viel in das Land investiert. Experten aus den Ostblockstaaten und der Sowjetunion wurden geschickt, um Betriebe aufzubauen. Es sind aber auch Klöster und Kulturgüter vernichtet worden und es haben Säuberungswellen stattgefunden. Darüber hinaus wurden Regimegegner und Geistliche blutig verfolgt. Religiöse Handlungen wurden nicht geduldet. 

Außerdem sollte die Symbolfigur Dschingis Chan ausgelöscht werden, auch der Geschichtsunterricht wurde dahingehend verzerrt. Man fürchtete eine zu große Autorität durch den traditionellen Wert des Nationalhelden. 

Mit der politischen Wende 1990 wurde das sozialistische System in der Mongolei plötzlich demokratisch. Die regierende Partei, die Mongolische Revolutionäre Volkspartei, wurde jedoch nicht abgesetzt. Sie nannte sich zunächst Mongolische Demokratische Partei und die Parteifunktionäre behielten zum Teil ihre Posten. Vom sozialistischen System ausgebildet und geprägt, versuchten sie nun, ihren Kurs demokratisch zu lenken, was durch unsichere und sich ständig ändernde Neuerungen gezeichnet war. 

Vor dem Sozialismus wurde die Mongolei 220 Jahre von den Mandschuren okkupiert. In dieser Zeit verschmolz die indigene Religion der Turko-Mongolen – der  Schamanismus – mit dem Buddhismus. 

Ausgehend von der Annahme, dass Normen, Werte und Traditionen eng mit Religion zusammenhängen, ergibt sich im vorliegenden Kontext die Frage, was die politischen Entscheidungen, auch die Unterdrückung der eigentlichen Kultur, mit der Bevölkerung gemacht haben.

Familienstruktur

In der traditionellen mongolischen Gesellschaft entspricht ein Haushalt einer Einheit für Wohnen und Wirtschaft. Das bedeutet nicht zwingend, dass ein Haushalt mit einer Familie auf verwandtschaftlicher Ebene gleichzusetzen ist. 

Der Patriarch lebt mit seiner Frau oder seinen Frauen, unverheirateten Söhnen, Töchtern, verheirateten Söhnen sowie deren Frauen und Kindern in einem Haushalt. Die Ehe hat im ruralen Raum weniger Gewicht als in der Stadt. Der Mann besitzt die alleinige Autorität und hat die Macht über die Herde, dem Bereich außerhalb des Haushalts. Die Frauen haben ihren Aufgabenbereich im Haushalt, in dem die Frau des Patriarchen die Autorität hat. Um die Kinder kümmern sich hauptsächlich die Großeltern. 

Allgemein hängt die Stellung einer Frau von der Anzahl ihrer Kinder ab, vor allem die Söhne sind von Bedeutung. Ob sie einen Mann hat, ist nicht relevant. Kann eine Frau keine Kinder bekommen und eine andere hat so viele, dass sie sie beispielsweise nicht ernähren kann, gibt die eine der anderen jene Kinder, die für sie zu viel sind, um den Status der anderen zu erhöhen – eine Form von Adoption.

Im Sozialismus war die Rolle der Frau repräsentativ. Männer und Frauen sollten arbeiten. Außerdem wurde Bildung, vor allem die der Frauen, stark gefördert. 

Gehen Frauen arbeiten, sind sie vom Haushalt und von den Kindern getrennt, was eine enorme Veränderung für das familiäre Leben in Bezug auf diese traditionellen Strukturen bedeutet. Das brachte für die Frauen in der Stadt neue Herausforderungen. Denn gleichzeitig war es ihre Aufgabe, sich um die Familie zu kümmern. Frauen ohne Kinder wurden immer noch – wie in den traditionellen Strukturen – in der Gesellschaft als minderwertig angesehen. Mütter von vier oder mehr Kindern erhielten staatliche Unterstützung, wodurch sie ihre traditionellen Rollen im Haushalt weiterhin leben konnten. 

Das hat sich nach der Wende jäh geändert. Die Subventionen haben sich ab Mitte der 1980er Jahre verringert. Durch die Perestroika hat sich die Sowjetunion mehr dem Westen zugewandt und die Mongolei zunehmend vernachlässigt. Die Experten aus dem Ostblock und der Sowjetunion wurden zurückgeholt und hinterließen heruntergewirtschaftete Betriebe. Viele Mongolen wurden arbeitslos. 

Um weiterhin ihre Familien ernähren zu können, mussten jetzt auch jene Frauen mit mehreren Kindern, die im sozialistischen System aufgrund der Subventionen zu Hause bleiben konnten, arbeiten. 

An dieser Stelle trat eine weitere Hürde auf: Wohin sollten die Kinder, während ihre Mütter arbeiten? 

Ab 1990 wurden sämtliche Kinderbetreuungseinrichtungen abgebaut. 1990 hat es in der Mongolei 1.350 Institutionen, wie Kindergärten oder Horte gegeben. 1996 waren es nur mehr 705. Hier sei erwähnt, dass statistische Werte in der Mongolei aufgrund der nahezu nicht erfassbaren Weite des Landes lediglich als Tendenzen zu betrachten sind. 

In vielen Fällen bekamen die Großeltern wieder ihren traditionellen Stellenwert, wie sie ihn in Nomadenfamilien bis dahin durchgehend immer noch hatten: Sie übernahmen nun die Kinderbetreuung. 

Viele Kinder verbrachten aber auch die Zeit auf der Straße, sie waren auf sich allein gestellt und kamen oft ins Waisenhaus. 

Im Sozialismus gab es Einrichtungen für Kinder, die die Mongolen aber erst lernen mussten zu nutzen. Denn traditionell lag die Kinderbetreuung im Aufgabenbereich der Frauen. Daher war es immer noch für viele, vor allem jene Mütter mit mehreren Kindern, schwierig, ihre Kinder in die Obhut Fremder zu geben. Sie fühlten sich der Familie gegenüber verantwortlich.

Außerdem waren die Kinderbetreuungseinrichtungen im Sozialismus staatlich, nach der Wende gab es nur mehr private, was sich nicht jede Familie bzw. Frau leisten konnte. 

Darüber hinaus hatten es Frauen nach der Wende schwerer als Männer, sich beruflich wieder zu etablieren. Denn es war weiterhin ihre gesellschaftliche Pflicht, Kinder zu bekommen und sich um die Familie (Großfamilie) zu kümmern. Dazu kam, dass auch die Renten der Alten, die im sozialistischen System selbstverständlich waren, ausblieben. Waren die Männer bzw. Väter arbeitslos, sahen sie ihre traditionelle Aufgabe außerhalb des Haushalts als nicht erfüllt. Oft kam Frustration auf und nicht selten verfielen sie dem Alkohol. Die Belastung für die Frauen war enorm. 

Diese über Generationen hinweg internalisierte Rollenverteilung, die das Überleben der Nomadenfamilien sicherte, wurde nun zum Verhängnis für die urbane mongolische Familie.

Die Nomaden lebten im sozialistischen System zurückgezogen, weshalb sie viele traditionelle Elemente bewahrt haben. Sie wirtschafteten in negdel-Systemen (Viehzüchtergenossenschaften), in denen es aber keine Kontrolle gab. Das heißt, sie bekamen vom Staat Geld und brauchten nichts weiter zu tun; sie mussten keine Eigeninitiative leisten. Nach der Wende blieb das staatliche Geld aus, Motivation und Ansporn waren aber weiterhin gering. Außerdem ist die Nomadenwirtschaft nicht auf Marktwirtschaft ausgerichtet, sondern auf Tauschhandel. Die Folge war, dass viele verarmten. Für die jungen Nomaden war Landflucht oft die einzige Möglichkeit. 

Jedoch fanden sie durch die Überbevölkerung und den gleichzeitigen Rückgang der Arbeitsplätze in der Stadt nur selten Arbeit. Sie lebten ohne ihren Klan, in dem sie stets sozial und wirtschaftlich mit eingebunden waren. In der Stadt waren sie nun auf sich allein gestellt oder fanden sich in einer Lebensweise, in der sie nicht sozialisiert wurden. Das bedeutet, sie haben nicht gelernt, fern vom eigenen Haushalt zu arbeiten und alleine Verantwortung zu tragen. Denn in den Nomadenfamilien sind die Verantwortungsbereiche im Haushalt aufgeteilt.

Haben die Zugezogenen keine Arbeit, beginnen sie häufig zu trinken. Oft müssen die Kinder arbeiten oder werden von den Familien weggeschickt.

Darüber hinaus ist nach der Wende die Scheidungsrate rasant angestiegen. 1990 wurden 2.243 Scheidungen registriert, was etwa der Zahl von 1985 entspricht. 1993 waren es 6.000. Es herrscht allgemeiner Tenor, dass die Scheidungen meist von den Frauen ausgingen. Der Grund dafür wird in der Familienpolitik gesehen. In der stalinistischen Politik wurden die Ehe und die Familie aufgewertet, was in der Mongolei übernommen wurde. Scheidung wurde nicht geduldet und oft hatten es geschiedene Frauen schwer, sich auf dem Arbeitsmarkt zu halten. 

Die Geschichte einer Frau aus Ulaanbaatar veranschaulicht diese Situation. Sie erzählte, dass wenn sich Frauen scheiden ließen oder sich von ihren Männern trennten, sie an Respekt verloren hätten. Sie selbst ließ sich unmittelbar nach der Wende scheiden. Ihr Mann trank und war gewalttätig. Jedoch hatte sie zwei Kinder und die Gefahr, dass sie ihren Job verloren und keinen mehr bekommen hätte, war zu groß. Nach der Wende stellte Scheidung für sie kein Problem mehr dar. 

Das zeigt, dass sich auf gesellschaftlicher Ebene der Wert der Ehe, wie er im sozialistischen System gelebt wurde, offenbar nicht durchgesetzt hat. Ausschlaggebend war (wieder), ob Frauen Kinder haben. Im marktwirtschaftlichen System führt das manche Alleinstehende allerdings oft unter die Armutsgrenze.

Kulturelles Defizit und Neufindung

Diese prekäre Situation in den Griff zu bekommen, ist für die Regierung und auch für ausländische Hilfsorganisationen nicht einfach. 

Ein Aspekt, der von vielen Seiten als Schlüsselpunkt für unzureichende Maßnahmen hinsichtlich der sozialen, aber auch der wirtschaftlichen Situation genannt wird ist, dass in der Mongolei Probleme nicht diskutiert werden. Die Wurzeln dafür liegen im Schamanismus. Hier gilt es, Negatives nicht anzusprechen, da sonst böse Geister geweckt werden. Verantwortlich dafür ist vermutlich eine an die veränderten Gegebenheiten nicht ausreichend adaptierte Kultur. 

An dieser Stelle kommt ein wichtiges soziales Phänomen zum Vorschein, das auftreten kann, wenn sich ein System plötzlich ändert: das kulturelle Defizit(vgl. cultural lag nach Ogburn 1969). 

Ein wichtiger Faktor dabei ist die Adaption von Kultur und Tradition an äußere Bedingungen, wie Politik und Wirtschaft im innerfamiliären Leben. Diese Anpassung hat in der Mongolei (zunächst) nicht ausreichend stattgefunden. Die traditionellen Strukturen, die während des Sozialismus offenbar nicht verloren gegangen sind, sind nicht auf die Marktwirtschaft ausgerichtet. Dazu kam die konfuse Politik, die auch nicht auf die neuen Strukturen eingestellt war, wodurch letztendlich im sozialen Gefüge eine Irritation stattgefunden hat.  

Die kulturellen Elemente, die nach außen hin lange Zeit unterdrückt und nur in der Privatheit der Familie im Geheimen gelebt worden sind, sind nach der Wende in das soziale öffentliche Leben integriert worden. 

Das zeigt die Bedeutung der Zahl 3 und wie sie in den Alltag integriert wird. Etwa läuft man dreimal im Sonnenlauf um einen Owoo (Opferberg) oder tippt dreimal in Gefäße, weil es Glück bringt.

Ein weiteres Beispiel ist der Tourismus, der zu einem wichtigen wirtschaftlichen Element geworden ist und die mongolische Kultur verkauft. Die Einzigartigkeit des Nomadenlebens zieht viele Menschen an, vor allem aus dem Westen. Damit werden Traditionen und Riten, die im Alltag der Nomaden selbstverständlich sind, zum Erlebnis, wie die typische Zubereitung von Speisen – etwa Fleisch, das zusammen mit heißen Steinen im Körper des Tieres (oder in einer großen Kanne) im offenen Feuer gegart wird. Die heißen Steine nimmt man anschließend in die Hand und gibt sie schnell von einer in die andere, weil es Glück bringt. Damit werden Traditionen zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor. 

Aber auch Dschingis Chan zählt dazu. Der große Herrscher und Eroberer aus der Vergangenheit gilt weltweit als identitätsstiftend für die Mongolei. Während des Sozialismus hat man versucht, ihn aus dem kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung zu löschen. Nun wird er wiederentdeckt. All die Jahre hat man ihn weltweit mit der Mongolei assoziiert, wodurch er jetzt auch zum Verkaufsobjekt geworden ist. 

Weitere Beispiele für das Überleben von Tradition, Kultur und Religion während des repressiven Systems sind das Revival des Schamanismus, das Naadam Fest, das zahlreiche Traditionen und Rituale feiert, oder das Fest des Tsagaan Sar (Neumondfest).

Conclusio

Mit dem Beginn des sozialistischen Systems wurde die Identität der mongolischen Bevölkerung unterdrückt. Demzufolge hat das Defizit schon während der 70 Jahre Sozialismus und Abhängigkeit von der Sowjetunion existiert. Nach der Wende 1990 war man öffentlich auf der Suche nach einer neuen staatlichen Identität. Gleichzeitig musste man sich aber auf eine Marktwirtschaft und Demokratie einstellen, und die regierende Partei war dieselbe wie im Sozialismus – nur demokratisch. 

In der Stadt hat vieles durch die kulturelle Vererbung überlebt – durch die Weitergabe von Normen, Werten und Traditionen in der Erziehung durch Verhaltensmuster. Neben den indigenen Traditionen sind jetzt – nach der Wende – auch Werte, die im sozialistischen Regime vermittelt worden sind, latent in der Gesellschaft vorhanden  in der Privatheit wie in der Öffentlichkeit. 

Daher kann das kulturelle Defizit in sozialwissenschaftlicher Hinsicht als Knotenpunkt gesehen werden. Zwischen der privaten Lebens- und Denkweise sowie dem, was in der Öffentlichkeit geduldet wurde, ist eine Kluft entstanden. In der Zeit der Wende ist dies aufgrund der dadurch fehlenden Identität des Landes sowie durch die verworrene politische Struktur zum Vorschein gekommen. Die Folgen haben sich vor allem auf sozialer Ebene gezeigt.

Quellen

Ogburn, William F. (1969): Kultur und sozialer Wandel. Neuwied am Rhein: Leuchterhand Verlag.

Plach, Anna-Katharina (2012): Mongolische Familien und die Neufindung ihrer Tradition. Wien: LIT Verlag.

Mag.a Dr.in Anna-Katharina Plach studierte Soziologie und Geschichte an der Universität Wien. Ihre Schwerpunkte sind Sprachsoziologie sowie generations-übergreifende autoritäre Erziehung und die sozialhistorische Entwicklung in der Mongolei. Darüber hinaus arbeitet sie als Lektorin, Texterin und Schreibcoach.

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